Der Gott des Gemetzels

Der Blick aufs Bühnenbild (im Hintergrund eine Höhlenmalerei à la Lascaux, das Mobiliar aus deftigen Paletten gezimmert) verrät schon vorab: In Mödling wird’s zum Saisonstart atavistisch!

Daran vermag auch das bemüht „kultivierte“ Ambiente nichts zu ändern, nämlich der Gesprächsversuch zweier Paare, deren elfjährige Buben auf dem Spielplatz so „unkultiviert“ kommuniziert haben, dass einem die Vorderzähne fehlen.
Gnadenlos werden nicht nur die Schwächen einer mit verbalen Banalitäten übertünchten Konfliktgesellschaft, sondern auch ihrer Beziehungen enttarnt. Wortwitz, Situationskomik, eine straffe, effektvolle Regie (Rüdiger Hentzschel) und ein hervorragend agierendes, spielfreudiges Ensemble machen den Abend zum Genuss.

Fazit: Eine Gratwanderung zwischen Humanismus und Atavismus – kurzweilig umgesetzt.

nön.at , 22.10.2014, Günther Schwab

Der Gott des Gemetzels, eine aufschlussreiche Huldigung

Es bringt nichts, sich anständig zu verhalten... Regisseur Rüdiger Hentzschel stellt auf den ersten Blick alles klar.

Das Bühnenbild zeigt Höhlenmalereien, geschaffen von Tom Lackner, was nicht anderes bedeuten soll: Wir sind Höhlenmenschen, die der Steinzeit gerade einmal durch die moderne Einrichtung unserer Höhle entwachsen sind. Der Rest von uns steckt noch tief drinnen in der Zeit, als Gewalt noch als ehrlicher Lösungsansatz für Konflikte gegolten hat. Der Unterschied zum Heute: Wir machen uns vor, die „Kunst des zivilisierten Umgangs zu beherrschen“ und Auseinandersetzungen kultiviert, sprich, per Diskussion beilegen zu können. Dass dem nicht so ist, beweist im wahren Sinn des Wortes hieb- und stichfest die französische Autorin Yasmina Reza in ihrem Stück „Der Gott des Gemetzels“. Sie nennt es eine Komödie. Man kann zwar lachen, meistens aber über sich selbst und über erlebte Szenen, weil alles so wahrhaftig lebensnah abläuft.
Die Story: Ein Bub hat im Park dem anderen ganz archaisch mit einem Stock zwei Zähne ausgeschlagen.Die Eltern der beiden Knaben treffen einander in der Wohnung der einen Familie, um die Angelegenheit zu besprechen. Man sitzt etwas gespreizt auf Fauteuilles, hergestellt originellerweise aus Paletten. Man betreibt gehemmten Smalltalk. Bis kleine Pfeile fliegen und schmerzhaft treffen. Unter den Freundlichkeiten wabbert spürbar die Aggression. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Maske der Zivilisation zerbröselt. Eine Flasche Rum erleichtert den Kultursprung in ferne Vergangenheit. Die Spannungen wachsen zusehens und jeden Moment erwartet man den Knüppel, mit dem der eine Höhlenmensch den anderen auf den Schädel drischt. Anstand wird bald abgelehnt und als völliger Unsinn bezeichnet. Keine Rede mehr von der Reife, Gewalt durch Recht ersetzen zu können, obwohl die beiden Elternpaare, Véronique und Michel Houillé und Annette und Alain Reille nichts anderes als einen friedlichen Ausgleich im Si nn gehabt haben wollen. Das Ergebnis ist ein flottes Weiterspielen des Streites mit wechselnden Allianzen zwischen den beiden Ehepaaren, die bei der Gelegenheit so alles bloßlegen, was nur irgendwie für die anderen peinlich ist.
Die Scala in der Wiedner Hauptstraße macht verlässlich aus diesem Stoff wieder „Theater zum Fürchten“. Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel haben das Stück aus dem Französischen übersetzt und auch in Deutsch einen fein pointierten Verfall der Zivilisation geschaffen. Über fünf Viertelstunden gleiten Monica Anna Cammerlander (Véronique), Dirk Warme (Michel), Johanna Withalm (Annette) und Hendrik Winkler (Alain ) sehenswert aus der Kultur unserer Tage zurück in ihre Urinstinkte. Daran hindert sie auch lästige Technik wie Handy oder Schnurlostelefon nicht. Sehenswert, wie Annette in dem ganzen Getue die Übelkeit hochsteigt und sie in großartig gespielter Betrunkenheit und kotzend zu ihrer Wahrheit findet oder ihr Mann Alain zur Hilflosigkeit zusammenbricht, weil sie sein Handy in der Blumenvase versenkt. Herrlich lästig sticht auch Véronique immer wieder in verheilt geglaubte Wunden, während ihr Michel in grenzenloser Naivität vom Aussetzen des Hamsters seiner Tochter erzählt.

Die vier Typen sind bestens gewählt, besser kann man nicht die Dünnheit der Kulturhaut darstellen, die uns durch die Evolution über Jahrtausende angeblich angewachsen ist.

wein und kultur

Skala-Theater

Yasmina Reza, mit ihren Stücken „Kunst“ und „Drei Mal Leben“ eine der meistgespielten Autorinnen der Gegenwart, ist mit ihrem dritten Erfolgsstück jetzt auch in die Wiedner Hauptstraße eingezogen. Es war mutig von Scalachef Bruno Max, sich dem Vergleich mit der brillanten Burgtheateraufführung auszusetzen, doch hat er ihm mit dem Regisseur Rüdiger Hentzschel und den für die Scala neuen Schauspielern Monica Anna Cammerlander, Dirk Warme, Johanna Withalm und Hendrik Winkler bestanden. Sie spielen die beiden Ehepaare, die zusammengekommen sind, um den Streit ihrer Söhne unter Kontrolle zu bringen und Frieden zu stiften. Es ist ein ständig schwelender Streit, der mitunter eskaliert, wenn man einander das Fehlverhalten vorwirft – einem der beiden Buben wurden sogar zwei Zähne ausgeschlagen. Zuerst in glatter, urbaner Höflichkeit verhandelnd und die Lage analysierend, geraten die beiden Paare immer wieder in einen Mahlstrom gegenseitiger Ablehnung. Zum Schluss steigern sie sich zu schweren Beleidigungen und grotesken Beschimpfungen: Alle Frustrationen, auch der Ehepartner, brechen hervor, schwellen zu Hassorgien an. Die Schnapsflasche öffnet dabei alle gegen die anderen aufgestauten Ressentiments. Rezas Meisterschaft liegt dabei in ihrer raffinierten Dramaturgie und dass solche Wortgemetzel auf die Zuschauer komisch wirken, ja sogar Selbsterkenntnis auslösen. Die Schauspieler setzen die Situationen hervorragend um.

Krone, 6. 11.2014

Skala-Theater

Baustelle betreten verboten. Oder: Eltern haften für ihre Kinder. Yasmina Rezas Stück über Lebenslügen und ungeklärte Schuldfragen lässt sich in diesem einfachen Verbot zusammenfassen. Denn: Wer unter die Oberfläche schaut, tut dies auf eigene Gefahr. Inszeniert von Rüdiger Hentzschel begeben sich Annette (überzeugend gespielt von Johanna Withalm) und Alain (verkörpert von Hendrik Winkler) in diese Gefahrenzone und damit in die Höhle des Löwen, um die Untat ihres Sohnes - hat er doch seinem Freund zwei Zähne ausgeschlagen - mit Michel (Dirk Warme) und Véronique Houillé (Monica Anna Cammerlander) auszusprechen. In der gekonnt getarnten, gutbürgerlichen Vorzeigewohnung mit offenen Armen empfangen, lässt die Eskalation nicht lange auf sich warten.

Tiefgang

Während bei Kaffee und Kuchen Täter-Opfer-Zuschreibungen zum Besten gegeben werden, scheint es, als ob Dauertelefonierer Alain auf geschäftlicher Ebene seine Privatprobleme lösen würde, wenn er seinem Gegenüber anwaltstypische Halbwahrheiten diktiert. Wobei daneben der allgemeine Dritte-Welt-Konflikt nicht zu kurz kommt, damit auch jeder ein Stück vom "Gutmenschen-Kuchen", serviert von der köstlich-spießig gespielten Véronique, abbekommt. Dieser landet wenig später unverdaut (großartig hochgewürgt von Johanna Withalm) auf dem geliebten Kokoschka der Houillés - Sinnbild einer Familie, die überfordert ist mit der unglaublichen Leichtigkeit des S(ch)eins.

Die Kunst des zivilisierten Umgangs miteinander

Sie ist hinüber, der Kampf eröffnet. Zwischen "Einer gegen Alle" und "Jeder gegen Jeden" wird die Wohnungseinrichtung (Bühne: Rüdiger Hentzschel) demoliert und Hilfe im Alkohol gesucht - vergebens. Auch die Probleme einer Vorzeigefamilie können schwimmen. Als Alains Handy Bekanntschaft mit Wasser macht, lässt sich in einer Zeit ewiger Erreichbarkeit und andauernden Mitteilungsdrangs ein Anflug subtiler Medienkritik erkennen. Kann auch die spießbürgerliche Kleidung (Kostüme: Alexandra Fitzinger), sowie die typisch klassische, aber klasse gewählte Musik (Fritz Rainer) als warnender Vorbote des Exzess gesehen werden. So muss dem Quartett ein großes Kompliment zugetragen werden: Schwanken sie zwischen furiengleichem Auszucken und zuckersüßer Zurückhaltung hin und her, so schaffen sie dies, ohne ins Übertriebene zu kippen.

Big Brother...

Während die vier Schauspieler (Bravo an alle!) ihre traurige Überforderung mit den Stolpersteinen der Gesellschaft im Schutz der Wohnung teilen, fällt der Blick auf einen Monitor, versteckt in der Garderobe. Hier eröffnet sich ein Spielraum, der einerseits vom Theater im Theater erzählt, aber andererseits auch erhobenen Fingers ermahnt: Der Gott des Gemetzels sieht alles.
Nicht oft passiert es, dass freigesetzte Aggression derart viele Lacher und Applaus erntet - diesmal aber zurecht!

Theater-Tipp, 17.11.2014, Caroline Schenk

Der Gott des Gemetzels

Seit Edward Albees Zimmerschlacht Wer hat Angst vor Virginia Woolf? hat niemand die Abgründe von Paarbeziehungen so geistreich und bitterbös ausgelotet wie die französische Erfolgsautorin Yasmina Reza.

Der elfjährige Ferdinand hat auf dem Spielplatz dem gleichaltrigen Bruno zwei Schneidezähne ausgeschlagen. Die gutbürgerlichen Eltern treffen einander, um ganz vernünftig, tolerant und wie es sich für kultivierte Menschen gehört, über den Vorfall zu sprechen. Alain und Annette überlegen mit Véronique und Michel bei Kaffee und Kuchen, wie man zivilisiert und pädagogisch richtig die Sache aus der Welt schafft. Aber schon bei der Schuldfrage ist man unterschiedlicher Meinung.
Ist so ein brutales Verhalten eines Kindes nicht auch ein Zeichen dafür, dass in der Familie irgendetwas nicht stimmen kann? Ein Wort ergibt das andere, und ohne Vorwarnung geraten die beiden Paare selbst in eine Auseinandersetzung, bei der alle gesellschaftlichen Spielregeln und Lebenslügen über Bord gehen.

Kritik: Bei einer Auseinandersetzung auf dem Schulhof hat ein Junge durch die Attacke eines Altersgenossen zwei Zähne eingebüßt und einen geschwollenen Mund davongetragen. Die Eltern der beiden Streithähne haben sich jetzt zur Schlichtung des Zwischenfalls zusammengesetzt. Als Erwachsene wissen sie natürlich ganz genau, wie sich gesittete Mitteleuropäer in einem solchen Fall zu verhalten haben – aber das nützt ihnen leider alles nichts, denn je mehr Zeit vergeht und je mehr Alkohol mit ins Spiel kommt, desto stärker entgleist der Dialog und die verbalen Ungefälligkeiten werden durch handgreiflichere Aktionen abgelöst. Das kurze heftige Aufeinandertreffen der Sprösslinge erlebt somit in der angeblich subtileren Erwachenenwelt eine wesentlich länger dauernde Wiederholung, und der Gott des Gemetzels kann nun erst recht triumphieren.
Yasmina Reza hat mit diesem Stück erneut ihr Gespür für bühnenwirksame Texte unter Beweis gestellt, und selbst ein Profi wie Roman Polanski wusste das zu würdigen, als er sich vor drei Jahren zu einer hochkarätig besetzten Verfilmung anregen ließ. Derartig namhafte Konkurrenz hat aber Regisseur Rüdiger Hentzschels zum Glück nicht davon abgehalten, das Stück nun seinerseits an der Wiener Scala zu inszenieren, und seine vier Darsteller sind so eigenständig, dass man gar nicht auf die Idee käme, über die entsprechenden Figuren etwa die Gesichter von Christoph Waltz oder Jodie Foster zu projizieren.
Monica Anna Cammerlander spielt die feinsinnige Gschaftelhuberin mit ihren über die ganze Wohnung verteilten Kunstbuchfetischen herrlich verkniffen und geht im Laufe des Abends dafür umso hemmungsloser aus sich heraus. Johanna Withalm muss nicht nur viel Text von sich geben, sondern auch Erbrochenes verspritzen und außerdem einen hysterischen Lachanfall produzieren, der so authentisch gerät, dass die Heiterkeit auf das Publikum überspringt. Dirk Warme will als leidgeprüfter Ehemann eine begütigende Vermittlerrolle übernehmen, greift aber dann doch lieber zum teuren Rum, und Hendrik Winkler legt als Workaholik hingebungsvoll eine ausgeprägte Handymanie an den Tag.
Der Regisseur hat übrigens gleich eine doppelte Aufgabe erfüllt und seine Raumgestaltung kann sich ebenfalls sehen lassen: Die äußerst einfallsreich komplett aus Paletten gefertigte Einrichtung scheint direkt vom Gabelstapler gefallen zu sein. Im Hintergrund wacht über das wilde Treiben die riesige Reproduktion einer Höhlenmalerei, und die ganze Bühne wird obendrein in einen gigantischen Bilderrahmen gefasst. Im Kleinen findet sich eine Entsprechung in Form eines weiteren Rahmens - der angebliche Spiegel ist allerdings ein Bildschirm, auf dem das Geschehen per Kamera eingefangen wird. Das könnte man einerseits als Verweis auf Yasmina Rezas erstes Erfolgsstück „Kunst“ verstehen, andererseits bietet die Scala so ihre ganz eigene Verfilmung und lässt sich von dem großen Vorgänger Polanski nicht Bange machen. Recht hat sie!

events.at, Franco Schedl

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